Ich habe mir aus verschiedenen Listen von Büchern, die man gelesen haben sollte, eine eigene “100-Bücher-Liste” zusammengestellt. Albert Camus’ Roman Der Fremde findet sich auf vielen dieser Listen, also habe ich damit begonnen. Und dabei hatte ich meinen Erstkontakt mit den Existentialisten.
Camus hat sich selbst nie als Existentialist gesehen, aber in Der Fremde wird eine Grundposition dieser Philosophie sehr deutlich: Alle Menschen gleichen sich in einem Punkt: Sie sterben irgendwann. Auch wenn ich durchaus ein Interesse an philosophischen Texten habe, mit dem französischen Existentialismus hatte ich mich zuvor nie beschäftigt. Ja, dass es bei Camus um Existentialismus geht, ist mir erst im Nachhinein so richtig bewusst geworden.
Der Autor
Albert Camus wurde am 7. November 1913 geboren und starb am 4. Januar 1960 bei einem Autounfall. Er zählt zu den wichtigsten französischen Autoren des 20. Jahrhunderts. Der Schriftsteller, Philosoph und Religionskritiker gilt als ein Vertreter des Existentialismus, er selbst sah sich jedoch nicht als solcher. Seine Philosophie wich in einigen Punkten vom Existentialismus Jean Paul Sartres ab, mit dem es auch zum Bruch kam. Später wurden seine Ausführungen auch als “Philosophie des Absurden” bezeichnet.
Camus’ Roman Der Fremde wurde im Jahr 1942 veröffentlicht und gilt als wichtigstes Werk des Absurdismus. Gleichzeitig ist es einer der meistgedruckten französischen Romane des letzten Jahrhunderts.
Der Inhalt
Der sehr durchschnittliche Algerienfranzose Meursault wird, kurz nachdem seine Mutter verstorben ist, durch flüchtige Bekanntschaften und eigenwillige Zufälle – aber auch durch ein gewisses Maß an Weltfremdheit – zum Mörder.
Er landet daraufhin im Gefängnis und wird zum Tode verurteilt. Im Gerichtsverfahren wird ihm jedoch nicht allein der Mord zum Verhängnis, sondern vor allem der gleichgültige Umgang mit dem Tod seiner Mutter.
Das Leseerlebnis
Die Lektüre des Romans war, wenn man wie ich völlig unbelastet herangeht, eine sehr eigenwillige Erfahrung. Die absolute Gleichgültigkeit des Protagonisten gegenüber allem, was ihm in seinem Leben widerfährt oder begegnet, ist zunächst verstörend. Er ist unfassbar naiv, absolut ehrlich und die meiste Zeit völlig emotionslos.
Er macht sich Gedanken, die teilweise weit weg von dem sind, was ein geistig gesunder Mensch denken oder sagen würde. Er beteuert seinem Chef gegenüber beispielsweise, es sei nicht seine Schuld, dass er für die Beisetzung einen Tag Urlaub bräuchte.
Im späteren Verlauf erschießt er einen Araber, macht keinerlei Anstalten zu fliehen oder die Schuld abzustreiten und ist sogar der Meinung, es sei gerecht, dafür die Todesstrafe zu bekommen, auch wenn er nicht sterben möchte.
Nach dem ersten Schuss, der sein Gegenüber bereits tötet, schießt er weitere vier Mal auf den Leichnam, ohne einen konkreten Grund dafür zu haben. Auch das wird ihm letztlich negativ ausgelegt, denn dadurch scheint Notwehr ausgeschlossen, auch wenn der Araber ein Messer gezogen hatte.
Wie viele andere Stellen im Roman hat mich auch dieses tiefgreifende und für Meursault lebensverändernde Ereignis erst einmal etwas ratlos zurückgelassen. Mir war klar, dass im Laufe des Buches ein Mord geschehen wird, so viel verriet bereits der Klappentext. Aber erneut waren es die Emotions- und Motivationslosigkeit des Protagonisten, die mich sprachlos machten.
Das Buch ließ mich nicht nur an dieser Stelle mit vielen Fragezeichen zurück und ich werde es bei Gelegenheit erneut lesen, in der Hoffnung, dass viele Details beim zweiten Mal klarer werden.
Was mir allerdings sehr klar geworden ist: Meursault scheint mit seinem eintönigen Leben zufrieden zu sein. Und auch das Ende stört ihn nicht wirklich. Selbst als er kurz vor der Hinrichtung steht, ist er – nach einem Wutausbruch einem Geistlichen gegenüber und einer Weile des Nachdenkens – mit sich völlig im Reinen. Und dieser Wutausbruch ist tatsächlich die einzige echte Emotion, die er im Buch zeigt. Sie wird ausgelöst durch den Glauben des Priesters an ein Leben nach dem Tod und damit einen höheren Sinn. Für Meursault ist der Tod jedoch das Ende der Existenz. Er ruht bald wieder in sich, weil er sich hier endgültig “der zärtlichen Gleichgültigkeit der Welt” öffnet. Und in dieser sind alle Menschen gleich und kein Leben hat eine besondere Bedeutung.
Die Moral von der Geschicht’
Der Roman vermittelt eine Sicht auf den Menschen, die fast schon deprimierend ist. Im Existentialismus – und somit auch in Der Fremde – ist ein einzelnes Menschenleben bedeutungslos für das Universum. Nichts, was wir tun, hat ernsthaft Auswirkungen auf das Universum als Ganzes. Im Umkehrschluss ist aber auch das Universum und alles, was den Einzelnen nicht direkt betrifft, bedeutungslos für dessen Existenz.
Das klingt alles extrem philosophisch und das ist es auch. Im Nachgang zur Lektüre habe ich mich ein wenig mit dem Existentialismus beschäftigt. Allerdings ändert das nichts daran, dass sowohl das Buch als auch Camus’ sehr spezielle Philosophie für mich verstörend wirken. Ich bin sicher kein religiöser Mensch, aber ich glaube trotzdem, dass unsere Existenz nicht komplett irrelevant ist. Warum sollte das Universum etwas so faszinierendes wie das Leben produzieren, wenn es nichts bedeutet?
Nichtsdestotrotz ist Der Fremde ein faszinierendes Buch, welches definitiv zum Nachdenken anregt und mit Recht in den meisten „100 Bücher, die man gelesen haben sollte“-Listen auftaucht.
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