Ein Wintertag in Helsinki: Ich fahre mit der Straßenbahn zum Hakaniemi, kaufe mir im Supermarkt ein Korvapuusti (finnische Zimtschnecke, hmm, dieser Zimtgeruch), zwei Minipekaanipähkina viinerit (Pekannusstaschen) und einen Kaffee. Alles zusammen 2,55 €. Ich weiß, dass in der Nähe das Meer ist, deshalb spaziere ich hinunter, in der Hoffnung eine Bank zu finden. Es ist kalt, aber nicht sehr, meine nassen Haare trocknen noch. Der Wind weht sie mir ins Gesicht. An einem umzäunten Spielplatz überlege ich, ob ich umkehren soll, aber dann beschließe ich die Pekannusstaschen im Gehen zu essen. Sie sind mit einer süßen Mischung gefüllt, die ungefähr die Konsistenz von Marmelade hat, aber nach Nüssen und Honig schmeckt. Obendrauf geröstete Pekannüsse. Und Blätterteig.
Ich erreiche den Eläintarhanlahti, eine Bucht, die sich hier zwischen die Stadtteile Kallio (kahler Felsen) und Kruununheka (Königsweide) schiebt. Das Meer ist zugefroren und glänzt weiß. Leute spazieren mit ihren Hunden darauf herum, sie umkreisen einen Felsen, der in der Mitte aus dem Eis ragt. Am Ufer stehen Bänke, der Weg ist vereist. Dankbar balanciere ich meinen Kaffee dorthin, und während ich abwechselnd bitteren Kaffee schlürfe und süße Pekannusstasche esse, lasse ich die Gegend auf mich wirken. Bäume säumen das Ufer, und obwohl sie kahl sind, fühle ich mich wunderbar geborgen. Der weite Platz über dem Wasser öffnet den Blick auf ein futuristisches Restaurant, dessen frostige Scheiben halb ins Wasser hineingebaut sind und das geschlossen aussieht. Auf der anderen Seite der Bucht erhebt sich die Skyline von Töölö mit der Finlandiahalle, dem Turm des Nationalmuseums und der Kristuskirche. Dahinter qualmende Schornsteine und Baukräne, ein Plattenbauwerk, das alles verschandelt, aber nicht wegzudenken ist. Der weiße Schnee wird von der Sonne und dem hellblauen Himmel in eine Fläche aus Nichts verwandelt, die sich ungesehen unter der Welt erstreckt. Die Welt darauf ist dreckig und doch voller Wunder und kann nur auf solche Wintertage hoffen, an denen das Licht der Sonne sie verzaubert.

Das war im März, ein halbes Jahr später musste ich Finnland wieder verlassen. Seitdem will ich zurück. Ich kann nicht mal so genau sagen, warum eigentlich, außer dass ich diese nie endende Sehnsucht nach einem Land verspüre, in dem ich nur ein Jahr gelebt habe, das mich aber jeden Tag überrascht hat. Finnland war … anders. Finnland ist irgendwie Europa – auch wenn die Sprache anderes vermuten lässt, aber fun fact: Die Esten sprechen auch eine finno-ugrische Sprache, ebenso die Ungarn – und irgendwie ist es nicht Europa. Irgendwie gehört es halb schon zu Russland, zum Osten, in die Weiten des Urals. Es ist eine Welt voller seltsamer Geschöpfe, uralter Geschichten, gesungener Zauberlieder und Nahrungsmitteln mit unaussprechbaren Namen. Eine Welt, in der Natur tatsächlich undurchdringliche Wildnis und tausend Kilometer wegloser Wald bedeutet. Aber mit Handyempfang. Mit einer sehr modernen, sehr kosmopolitischen Hauptstadt und Leuten, die noch immer Blutklößchen für die Nachbarskinder kochen und dabei die Geister beschwören.
Helsinki ist eine moderne Metropole, mit dreckigen Ecken, an denen ich mich wie in den 80ern wähnte. Überall gab es seltsame Läden, deren Schilder ich nicht verstand und deren Auslagen hinter staubigen Scheiben verschwanden. Das Zentrum ist eine Ansammlung von imperialen Großmachtträumen aus dem 19. Jahrhundert, als Finnland sich mit Hilfe des Zaren neu erfand. Im Winter glitzert und leuchtet es wie in jeder anderen europäischen Hauptstadt und doch steht man nur wenige Straßen weiter vor einer orthodoxen Kathedrale von den Ausmaßen eines Doms oder einer dieser typischen Ostblockkatastrophen aus Beton und Stahl, von denen offenbar nicht nur Stalin der Meinung war, sie machen sich gut da, wo sie jeder sehen kann. Biegt man falsch ab, steht man plötzlich vor einer Meeresbucht, in der die Schiffe im Eis festgefroren sind. Und überall Bäume. Parks, Gras, im Winter Skispuren, ab Mai Leute, die sich in die Sonne legen. Helsinki ist eine grüne Stadt.
Und die Sauna. Natürlich die Sauna. Ohne Sauna kein Finnland. Mit der Sauna kommt der Teergeruch, Saunawurst mit Pickles, Lapin Kulta und das Gefühl zwischen den Holzleisten geborgen zu sein. Finnische Sauna ist nicht heiß, sie ist laut. Leute unterhalten sich in der Sauna, dann gehen sie raus und trinken Bier. Leute schweigen außerhalb der Sauna. Sie brummeln sich ein „Moi“ zu, wenn sie das Pech haben, sich im Hausflur über den Weg zu laufen. Und sie treiben Sport, selbst bei Regen und Schnee, in den dunklen Winternächten halt mit Flutscheinwerfern.
Alles an Finnland war fremd und gleichzeitig einen Tick vertraut. Oder war es genau andersherum: Alles war so vertraut, so mitteleuropäisch, aber gerade eine Prise exotisch genug, um interessant zu sein? Eine verwirrende Mischung. Und die Finnen lieben Bücher. Finnische Literatur beginnt mit der Kalevala (die ich hier, in ihrer übersetzten & nacherzählten Version auch rezensieren werde), einer Sammlung von jahrhundertealten Liedern und Erzählungen über Götter, Helden und die Natur. Sie wurde zuerst 1835 herausgegeben, und ist im Grunde eine Nacherzählung und zwar eine (sehr) freie: Elias Lönnrot sammelte Lieder, vor allem im östlichen Teil des damalige Finnlands, der heute zu Russland gehört, und machte eine zusammenhängende Geschichte draus. Sachen wurde weggelassen, ganze Handlungsstränge umgedichtet, aus zwei Personen wurde eine und so weiter, ganz dem Geist des 19. Jahrhunderts entsprechend, dass Finnland eine eigenständige Nation, ein Volk mit Geschichte und Identität ist. Und ein solches Volk braucht ein Nationalepos.

So weit, so normal, das war ja zu der Zeit auch in anderen Ländern grad Mode. Aber die Kalevala ist seltsam: Eine Reihe Männer mit unaussprechbaren Namen versucht 800 Seiten lang, die schönen Töchter der Herrscherin des Nordlandes zu bekommen, und scheitert. Die Herrscherin betrügt und belügt sie, besiegt sie im Kampf, und als dann doch mal eine der Töchter jemanden heiratet, endet das ganze im Völkermord. Der Held der Erzählung – Väinämöinen – ist ständig beleidigt, weil jemand seine Fähigkeiten nicht anerkennt, und am Ende wird er von einer Magd verjagt, die von einer Preiselbeere schwanger, den Erlöser (also Jesus) gebiert.
Das wundert es sicher niemanden, dass hundertfünfzig Jahre später eine Autorin einen Teil der finnischen Phantastik „finnish weird“ genannt hat, zu deutsch „finnisches Seltsam“. Natürlich steckt da noch mehr dahinter, und ich denke häufig an den Roman, in dem es um vier gescheiterte Männer in Helsinki ging. Handlung: Sie tranken Bier. 300 Seiten lang. Über all das werde ich schreiben, über Kalevas Land, Trolle und Matrosen, die unterirdische Welt, gescheiterte Liebe, Vampire in Estland, Mord & Totschlag und einen Nobelpreisträger. Die Natur spielt eine wichtige Rolle und moderne Technik. Die mögen die Finnen nämlich auch. Ansonsten wollen sie vor allem ihre Ruhe und die kleinen Dinge im Leben, welche da wären: Sauna, Schnaps, Kinder und Bücher.
Sollte euch dieser Artikel Lust auf das Buch gemacht haben, könnt ihr unter diesem Amazonlink zuschlagen. Damit unterstützt ihr unsere Seite und Podcast. Vielen Dank!