Haruki Murakami – Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Meine erste Begegnung mit Haruki Murakami führte mich in die Welten seines vierten Romans Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt. Das Buch ist bereits 1985 in Japan erschienen, wurde in Deutschland aber erst zehn Jahre später  im Suhrkamp Verlag veröffentlicht. Der Roman besteht aus zwei Erzählsträngen, der erste Hard-boiled Wonderland wurde von Jürgen Stalph und der zweite Das Ende der Welt von Annelie Ortmanns-Suzuki übersetzt.

Die Entscheidung diesen Roman zu lesen beruhte auf der leichten Science-Fiction-Andeutung in der Inhaltsangabe und der Tatsache, dass es um zwei unterschiedliche Geschichten geht, die zum Ende hin zu einer werden. Das schien mir doch sehr interessant und spannend zu sein und ich wurde auch nicht enttäuscht.

Wer ist Haruki Murakami?

Haruki Murakami wurde 1949 in Kyoto geboren und gehört heute zu den erfolgreichsten Autoren Japans, ist aber auch international erfolgreich. In Deutschland gewann er 2006 den Franz-Kafka-Preis und 2014 den WELT-Literaturpreis. Mit dem Schreiben begann er gegen Ende der Siebziger Jahre, der Auslöser war ein Baseball-Spiel im Jingu-Stadion in Tokio. Hier faszinierte ihn der Klang eines auf den Schläger auftreffenden Balls so sehr, dass er beschloss seinen erste Roman Wenn der Wind singt zu schreiben.

In den darauffolgenden Jahren entstanden so unter anderem Wilde Schafsjagd, Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt und Kafka am Strand, die national und international mit Preisen ausgezeichnet wurden. 

Vieles, was Murakami auf seinem Lebensweg begegnete – eine Zeitlang lebte er in Europa und den USA –, hatte Einfluss auf seine Werke. Aufgewachsen ist er in der Hafenstadt Kobe. Die Nähe zum Hafen ermöglichte es ihm, gebrauchte Bücher von dort stationierten amerikanischen Marinesoldaten zu lesen. Er war von der westlichen Literatur sehr angetan und liebte Jazz und Rockmusik, verschlang Autoren wie Hemingway, Raymond Chandler oder F. Scott Fitzgerald und übersetzte sie später sogar ins Japanische.

Der Song Norwegian Wood von den Beatles hat so großen Eindruck bei ihm hinterlassen, dass er später einen seiner Romane danach benannte. Dieses Buch sollte sein Durchbruch als Schriftsteller werden und ist in Deutschland als Naokos Lächeln erschienen.

Aber auch das aktuelle Zeitgeschehen spielt für Murakami eine wichtige Rolle. In Underground hat er Berichte von Opfern und Angehörigen der Giftgasanschläge von 1995 auf die Tokioter U-Bahn gesammelt. Er wollte den Menschen die Möglichkeit geben, die Ereignisse aus ihrer Sicht zu schildern, und gleichzeitig zeigen, wie gefährlich der Terrorismus für unsere heutige Gesellschaft sein kann.

Mit seinen frühen Texten, die er vor seinem ersten Roman geschrieben hatte, war Murakami lange unzufrieden. Er übersetzte sie daher zunächst ins Englische und dann wieder ins Japanische und konnte so überflüssige Worte sichtbar machen, was eine klare und direkte Sprache hervorbrachte, ein Stil, für den er heute berühmt ist. In seiner Heimat stieß dies zunächst auf große Skepsis, man befürchtete das Ende der traditionellen, sprachlich eher opulenten Literatur und die westlichen Einflüsse waren auch nicht gern gesehen.

Trotzdem werden Murakamis Geschichten heute mit Begeisterung gelesen, auch wenn manche seiner Geschichten schlechte Kritiken erhielten. 1Q84 zum Beispiel sei zu lang und Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki entspreche nicht der gewohnten Qualität Murakamis. Für den Autor selbst zählte es aber immer mehr, „starke Reaktionen hervorzurufen, als lauwarme Banalitäten“.

Seinen Helden folgt man durch vielschichtige Welten. Diese sind mit surrealen und mythischen Elementen versehen, handeln von Einsamkeit und Verlust und der Suche nach Identität. Dabei geht er schonungslos direkt, aber auch sensibel mit seinen menschlichen Protagonisten um.

Der Lesende wird herausgefordert, über seine Alltagsumgebung hinauszudenken, so dass man seine Geschichten noch lange im Kopf hat und sich gerne an das Leseerlebnis erinnert.

Die Geschichte

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt spielt zunächst in zwei Welten, von denen abwechselnd erzählt wird und die später zu einer Geschichte werden. Es beginnt im futuristischen Tokio, in einer noch fernen Gegenwart. Unser Held, ein namenloser Ich-Erzähler, gerät in einem Datenkrieg zwischen die Fronten zweier erbitterter Rivalen, dem System und der Fabrik. Nach einer Gehirnoperation ist er nämlich in der Lage zu „shuffeln“, das ist die Fähigkeit, Informationen hundertprozentig sicher zu codieren.

Das System und die Fabrik werden nicht müde, sich gegenseitig Daten zu stehlen. Die Datenverschlüsselung ist dabei ein wichtiger Teil im Kampf um die Weltherrschaft, um die die beiden Kontrahenten ringen. Da nun in einer hochmodernen Welt alle digitalen Daten gelesen, alles Verschlüsselte decodiert werden kann, ist ein alter genialer Professor auf die Idee gekommen, menschliche Individuen als eine Art Blackbox zu nutzen, und so versteckt er geheime Informationen in der innersten Vorstellungswelt des Erzählers. Bald darauf sind aber die Schergen der Fabrik hinter dem Helden her und es geht um Leben und Tod.

Im zweiten Handlungsstrang begegnen wir ebenfalls einem Ich-Erzähler ohne Namen, der sich ohne jede Erinnerung an sein bisheriges Leben am Tor einer Stadt wiederfindet, die von einer unüberwindbaren Mauer umgeben ist. Dort ist er gezwungen seinen Schatten abzugeben, der fortan in der Obhut des Torwächters bleibt. Für den Schatten werden es die letzten Monate bis zu seinem Tod sein. 

Der Ich-Erzähler beginnt währenddessen als Traumleser zu arbeiten. Bei dieser seltsamen Kunst werden Träume aus Tierschädeln herausgelesen. Was genau es damit auf sich hat, wird leider nicht beschrieben. Nur allmählich wird ihm klar, dass in dieser Stadt nicht alles mit rechten Dingen zugeht. So scheinen die Bewohner keine Seele zu haben und auch er wird bald – mit dem Tod seines Schattens – seine Seele verlieren. Darum schmiedet er einen Plan, um zusammen mit seinem Schatten zu fliehen.

Zunächst scheinen die beiden Erzählstränge nichts miteinander zu tun zu haben. Aber dass dies bis zum Ende des Buches so bleiben würde, konnte ich mir kaum vorstellen.

Anfangs ist alles noch etwas verwirrend, aber je weiter man der Geschichte folgt, entdeckt man immer mehr Zusammenhänge zwischen den beiden Welten. Die beiden Erzähler berichten bald von denselben Dingen, wie beispielsweise Tierschädeln, die in ihrer Umgebung auftauchen. Der Held aus Tokio rätselt, was es damit auf sich haben könnte und stellt Nachforschungen an, während der Held aus der Stadt mehr mit den Schädeln zu tun hat, als ihm später lieb sein wird.

Mein Eindruck

Beiden Geschichten finde ich sehr spannend erzählt und auch stilistisch hat mir das Buch sehr gut gefallen. Anfangs fühlte ich mich an Tad Williams Otherland erinnert, da man zusammen mit den Helden in bekannte und gleichzeitig unbekannte Welten eintaucht. Im modernen Tokio sind es bekannte und alltägliche Dinge, wie Bücher aus der Bücherei auszuleihen und Schallplatten zu hören, die einen angenehmen Gegensatz zu den seltsam anmutenden, digitalen Verschlüsselungsmethoden bieten. 

In der Stadtwelt sind es die fantastischen Elemente, die überwiegen, und unser Held begegnet bekannten Fabelwesen, den Einhörnern. Die außergewöhnliche Tätigkeit des Traumlesens war für mich eine sehr ausgefallene Idee und ich hätte gerne mehr darüber erfahren. Aber die knappe Darstellung eröffnete auch die Möglichkeit, eigene Spekulationen anzustellen und die Fantasie in Schwung zu bringen, was mir besonders gut gefallen hat. Es kann eine Geschichte sehr zäh und anstrengend machen, wenn alles genau beschrieben ist, was in Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt zum Glück nicht der Fall ist.

Es kommt mir nicht so vor, als hätte Murakami das Buch schon vor fast vierzig Jahren geschrieben. Es hätte auch erst vor kurzem veröffentlicht worden sein können. Die Geschichte wirkt durch die Sprache, die futuristischen und fantastischen Elemente sehr modern. Sein Stil, die Sätze nicht aufwändig zu verschachteln, sondern einfach und schlicht zu schreiben, macht die gut 500 Seiten leicht und schnell lesbar. Außerdem beschreibt er meiner Meinung nach, je nach Geschehen, immer sehr passend. Von der Umgebung wird nur das Nötigste beschrieben, wodurch der eigenen Vorstellungskraft mehr Raum gelassen wird. Das empfand ich als sehr wohltuend. 

Die Gefühlswelt seiner Figuren ist trotz seiner prägnanten Ausdrucksweise anschaulich dargestellt: 

“Gern hätte ich die Morgendämmerung gesehen, wie der Himmel langsam aufhellt. Und warme Milch getrunken, das morgendliche Grün gerochen und in der Zeitung geblättert. Von Dunkelheit und Egeln, von Löchern und Schwärzlingen hatte ich die Schnauze voll. Jedes Organ, jeder Muskel, jede Faser meines Körpers sehnte sich nach Licht. Schon der kleinste Strahl hätte mir genügt. Anständiges Licht wollte ich sehen, kein Taschenlampenlicht, einen kleinen, winzigen, elenden Strahl nur.“

“Gern hätte ich die Morgendämmerung gesehen, wie der Himmel langsam aufhellt. Und warme Milch getrunken, das morgendliche Grün gerochen und in der Zeitung geblättert. Von Dunkelheit und Egeln, von Löchern und Schwärzlingen hatte ich die Schnauze voll. Jedes Organ, jeder Muskel, jede Faser meines Körpers sehnte sich nach Licht. Schon der kleinste Strahl hätte mir genügt. Anständiges Licht wollte ich sehen, kein Taschenlampenlicht, einen kleinen, winzigen, elenden Strahl nur.“

Haruki Murakami S. 287f

Die poetischen Passagen haben mir auch sehr gefallen: 

„Frühling und Sommer gingen vorüber, und als das Licht matte Klarheit bekam und die ersten Herbstwinde im stockenden Flusswasser kleine Wellen aufwarfen, machte sich der Wandel im Aussehen der Tiere bemerkbar. Die goldenen Stellen tauchten zunächst vereinzelt auf, wie ein paar zufällige Fühler, die das kurze Fell durchsetzten, um schließlich alles in leuchtendes Gold zu hüllen.“

Haruki Murakami S. 21

Die Charaktere des Buches entsprechen den typischen Murakami-Charakteren. Es sind einfache, aber intelligente Leute. Sie besitzen eine Art Gabe, die sie aber nicht von Geburt an haben. Sie wollen außerdem nicht große Helden sein, stattdessen werden sie durch Zufall oder Schicksal in ein Abenteuer gezogen und müssen mit den ihnen gegebenen Mitteln den Herausforderungen, denen sie begegnen, entgegentreten.

Ich habe die Schicksale der beiden Helden gespannt verfolgt, man will die ganze Zeit wissen, wie das Leben des Tokioter Helden weitergeht und ob der Held aus der Stadtwelt einen Weg finden wird, die Stadt wieder zu verlassen und sich an sein früheres Leben zu erinnern. Am Ende der Geschichte hätte ich mir noch ein oder zwei Kapitel mehr gewünscht, nur um zu erfahren, wie die Zukunft der Protagonisten nach diesem Abenteuer aussehen wird. Dieses offene Ende gibt mir aber die Möglichkeit, mir meine eigenen Gedanken zu machen, und ich muss kein vom Autor entworfenes Finale einfach so hinnehmen.

Murakami baut mit einfachen Methoden eine Welt auf, die in Wirklichkeit ein ganzer Kosmos ist. Das finde ich großartig, denn so habe ich etwas, über das ich immer wieder nachgrübeln kann, als würde ich ständig ein paar Bonbons in meiner Jackentasche finden. Es ist für mich keine Frage, dass ich Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt noch einmal lesen werde. Und sicher werde ich bei einer erneuten Reise durch die beiden Welten wieder etwas Neues entdecken, das mir vorher vielleicht nicht aufgefallen ist, da bin ich mir sicher. Das wäre dann ein weiteres Bonbon in meiner Jackentasche.

Bei meiner Ausgabe handelte es sich um die 16. Auflage im btb Verlag erschienene und genehmigte Taschenbuchausgabe aus dem Dezember 2007. Meine Ausgabe findet ihr unter diesem Link in der DNB.

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