Weltendiebestour von Roland Triankowski
Ehre dem Weltenbaumeister
Lesegenuss bedeutet für mich, in eine fremde Welt einzutauchen und diese in all ihren Details zu erkunden. Wenn mir eine Autorin oder ein Autor das ermöglicht, dann reicht mir das meist und ich sehe dem Text Mängel in der Dramaturgie oder gar in der Charakterdarstellung nach.
Einer der größten Weltenbaumeister war für mich stets der englische Autor Terry Pratchett (1948 – 2015). Um sein Opus Magnum, die Scheibenwelt, soll es allerdings ein anderes Mal gehen, hier möchte ich euch einen Besuch auf der Langen Erde ans Herz legen.
Um das gleich klarzustellen: Pratchett hat auch großartige Charaktere geschaffen und ist ein solider Dramaturg. Immer wenn ich aus der Lektüre eines seiner Romane wieder auftauche, habe ich die Handlung fast sofort vergessen. Nicht dass seine Geschichten langweilig wären – aber vielleicht doch einen Hauch zu geradlinig und generisch, als dass sie mir lange im Gedächtnis blieben. Bei den meisten seiner Charaktere ist das schon anders, vor allem bei den Haupt- und Identifikationsfiguren. Spätestens bei seinen Antagonisten kommt er aber wieder an seine Grenzen. Sie sind allzu oft zu plakativ und eindimensional, womöglich weil er sich in böse Menschen nicht hineinversetzen konnte. Das macht ihn auch wieder sympathisch.

Meiner Ansicht äußert sich sein schriftstellerisches Genie in einem anderen Punkt. Was ich bei meinen Diebestouren durch seine Welten immer habe mitgehen lassen, ist ein tiefer und lebendiger Eindruck der Gegenden und Orte, die er erschaffen hat. Wie kaum einem Zweiten gelingt es ihm, unfassbar einfallsreiche, stimmige und detailreiche Welten zu erschaffen und sie unvergleichlich plastisch darzustellen. Ich erinnere mich auch Jahrzehnte später noch immer lebhaft an die Wälder und Dörfer von Llancre und die Straßen und Gassen von Ankh-Morpork, so als wäre ich wirklich dort gewesen.
Aber halt, um diese Orte soll es hier nicht gehen, die liegen ja auf der Scheibenwelt.
Auf zur Langen Erde!
Zunächst die schnöden Fakten: Es handelt sich um eine Buchreihe, die Terry Pratchett gemeinsam mit dem englischen Science-Fiction-Autoren Stephen Baxter (geboren 1957) erdacht und geschrieben hat. Die Entstehungsgeschichte ist selbst ganz interessant, da die beiden sich Ende der 2000er Jahre auf einer Scheibenwelt-Convention zusammengefunden und diese Idee entwickelt haben. Der erste von fünf Romanen erschien im Jahr 2012 unter dem Titel Die Lange Erde – ich gebe hier die originalen Veröffentlichungsjahre jedoch die deutschen Titel an –, es folgten Der Lange Krieg (2013), Der Lange Mars (2014), Das Lange Utopia (2015) und Der Lange Kosmos (2016). Den letzten Roman musste Baxter allein schreiben, da Pratchett 2015 verstorben ist. Er nutzte dabei die mit Pratchett gemeinsam erstellten Unterlagen.
Inhaltlich ist mit der Prämisse des ersten Bandes fast alles gesagt: In der nahen Zukunft taucht im Internet der Bauplan zu einer kleinen Maschine auf. Es ist ein kleiner Kasten mit nur einem Schalter daran. Jeder auf der Welt kann den so genannten »Wechsler« mit einfachsten Mitteln nachbauen. So man kein Eisen bei sich trägt, kann man mit diesem Gerät in eine Parallelwelt wechseln, eine Möglichkeit, die von diesem Tage an quasi allen Menschen auf der Erde offensteht.
Dabei handelt es sich nicht nur um eine Parallelerde, sondern um unendlich viele, die sich wie an einer Perlenschnur in zwei Richtungen erstrecken – in den Romanen werden die Richtungen in Anlehnung an die Himmelsrichtungen »Osten« und »Westen« genannt. Jeder »Klick« mit dem Schalter des Wechslers lässt die Nutzerin oder den Nutzer einen Schritt in die eine oder andere Richtung auf die jeweils nebenan befindliche Erde machen.
Parallelwelten – aber richtig
Diese Parallelwelten haben es in sich. Denn bis auf unsere Ursprungswelt sind alle diese Erden menschenleer. Das ist der erste Aspekt dieser Multiversums-Variante, der mich besonders fasziniert hat.
So amüsant ich das Star-Trek-Spiegeluniversum oder die Parallelwelten der beiden Superheldenuniversen finde – es ist doch arg unrealistisch, dass dort bei einer zum Teil radikal veränderten Historie trotzdem dasselbe Personal durch die Gegend spaziert. Bei diesem Gedanken machen Pratchett und Baxter jedoch nicht halt, denn die Menschheitsgeschichte macht ja nur einen Bruchteil des Alters der Erde aus. Nimmt man an, dass sich eine Vielzahl an möglichen Entwicklungen physisch manifestieren kann. Und nimmt man ferner an, dass die Existenz einer so hoch entwickelten und über den ganzen Globus verteilten Menschheit im erdgeschichtlichen Kontext extrem unwahrscheinlich ist. Dann ist es nur konsequent, alle anderen Parallelerden als menschenleer zu beschreiben.

Denn die historischen Variationen, die diese Erden darstellen, sind vielmehr evolutionärer und geologischer Natur. Sie beginnen direkt neben der Datumserde – so wird unsere Originalwelt in den Romanen genannt – mit einer Erde ohne Menschheit und werden in immer größerer Entfernung immer absonderlicher.
Stephen Baxter, bekannt und beliebt für seine Hard-SF-Szenarien, sorgt natürlich dafür, dass es dabei wissenschaftlich so akkurat wie möglich zugeht. Die Folgen einer etwas anders verlaufenden Evolution – ja, es kommen Dinosaurier vor – oder leicht veränderter geologischer Prozesse – Binnenmeer in Nordamerika gefällig? – werden wissenschaftlich interessierten Laien wie mir sehr nachvollziehbar und glaubhaft nahegebracht.
Und so ist es der Hauptzweck dieser Buchreihe, all diese Erden intensiv zu erkunden. Es ist eine große Freude, die – durchaus interessanten – Charaktere auf ihren Expeditionen durch die Lange Erde zu begleiten. Diese Erkundungsreisen führen bald mehrere tausend oder gar Millionen Schritte mit dem Wechsler von der Datumserde weg, sodass man auf radikal andere Erden trifft, die hin und wieder sogar fehlen – es gibt die ein oder andere Lücke in der Perlenschnur, in der die Erde durch irgendein Ereignis zerstört wurde oder gar nicht erst entstanden ist und die es schnell zu überspringen gilt. Irgendwann wird sogar eine etwas größere mond- und leblose Erde erreicht, die nie mit dem Protoplaneten Theia kollidiert ist.
Wie die Romantitel schon erahnen lassen, wird dieses Spiel dann noch einmal mit dem Mars durchexerziert – und ganz ohne Außerirdische kommt die Geschichte in den späteren Büchern ebenfalls nicht aus. Dabei habe ich noch kein Wort über die künstliche Intelligenz namens Lobsang – als alter KI-Freund ist das natürlich meine Lieblingsfigur – oder die Trolle verloren.
Viel zu erkunden
Aber ein bisschen was möchte ich euch noch lassen, das ihr beim Lesen selbst entdecken könnt. Denn es lohnt sich.
Trotz des großen Einfallsreichtums der beiden Autoren mag das reine Parallelweltenerkunden über fünf Romane hinweg etwas eintönig geraten. Viele Leserinnen und Leser haben genau das bemängelt. Aber etwas mehr als die bloße Darstellung diverser Expeditionen sind die Bücher dann schon – dennoch zieht man den Lesegenuss sicher aus dem detailreichen Weltenbau.
Dieser hat auch einen gesellschaftliche Aspekt. Denn ähnlich konsequent wie bei der geologischen und biologischen Beschreibung der Parallelerden wird auch der Impact der neuen Reisemöglichkeiten auf die Menschheit dargestellt. Es zerbröselt die Weltgesellschaft geradezu und stellt die gewohnte Weltordnung komplett auf den Kopf, da sich man sich nun mit einem einfachen Schritt in eine beliebige Parallelwelt begeben und damit jeder Verantwortung entziehen kann. Auf einmal stehen unbegrenzte Ressourcen zur Verfügung, Land, Rohstoffe, Bodenschätze – der Wirtschaft, wie wir sie kennen, wird jegliche Grundlage entzogen. Auch hier haben sich Pratchett und Baxter sehr einfallsreich gezeigt.
Kurzum, wenn ihr auf der Suche nach neuen Welten seid, die ihr gern intensiv erkunden möchtet, solltet ihr der Langen Erde dringend einen Besuch abstatten. Sie ist primär eine Science-Fiction-Welt – doch es wäre nicht Terry Pratchett, wenn der ein oder andere Aspekt nicht einen leichten Fantasy-Dreh hätte.
Aber lest selbst!
4 Kommentare
Kommentieren →Ich habe es gelesen und, mit einem Worte, die Serie ist dämlich.
Sie baut auf romantische Pionierideen, ohne sich zu fragen, wer denn bitte die ganzen Agrarprodukte kaufen soll oder wer von den Möchtegernpionieren bis er das erste Mal einen Zahnarzt braucht durchhält, ganz zu schweigen von danach.Kurz gesagt, sie haben eine tolle Idee genommen und sie versaut.
Moin Oliver, ist eine legitime Meinung. Hab auch schon oft Kritiken unter der Überschrift “Die Lange Weile” gelesen. Für mich ist diese Serie daher auch ausdrücklich ein Beispiel dafür, dass Geschichten mit hervorragendem Weltenbau einen schwachen Plot oder schwache Dramaturgie ausgleichen können. Für mich als Leser hat das zumindest gut funktioniert.
Grundsätzlich stimme ich der Theorie zu. Weltenbau, Plot und Dramaturgie können einander ausgleichen.
Nur muss ich eben gerade der Idee, dass der Weltenbau ausgezeichnet sei, widersprechen. Der ursprüngliche Einfall ist es. Nur was sie daraus gemacht haben, ist es eben nicht.
Ich fürchte ich muss weiter ausholen und entschuldige mich, sollte mein erster Kommentar uverständlich sein, weil ich das versäumte.
Die neuen Welten lassen sich so, wie sie es beschrieben haben, nicht besiedeln. Das war ein Versuch der Autoren, auf Gedeih und Verderb den Pioniergeist des 19. Jahrhunderts und den Wilden Westen wiederaufleben zu lassen. Das ergibt aber wirtschaftlich keinen Sinn. Die Resourcennot, die sie beschreiben, gibt es so nicht. Und wir können uns auch nicht mehr mehrheitlich in Bauern verwandeln, ohne völlig zu verarmen. Bauern leben heute in entwickelten Ländern eben nicht mehr am Existenzminimum gerade weil es sehr wenige sind, die pro Kopf viel erzeugen. Die Möglichkeit über die Landwirtschaft viele neue Siedlungen zu gründen gibt es deswegen nicht mehr. Die Möchtegernpioniere würden zu Subsistenzlandwirten, deren Kinder ihren Eltern verfluchten und zurückkehrten.
Das erste Buch hatte diese Schwäche gerade noch nicht. Es zeigte klar, dass wer als Jäger und Sammler leben wollte, das tun kann. Nur selbst da war die Sicht der Autoren auf die Folgen solch einer Lebensweise schon von ideologischen Wunschvorstellungen geprägt. Nur, es ging noch, weil die Grundidee so gut war. Aber eben nur so weit. Die Fortsetzungen sind mies.
Hm. Ich habe ehrlich gesagt gar nicht in Erinnerung, dass der Schwerpunkt dermaßen auf der Besiedelung – zudem noch eine erfolgreiche – lag. Zumindest in meiner Erinnerung lag der immer viel mehr auf der Erforschung der Erden, die sich anders entwickelt haben. Und genau das ist mir sehr angenehm im Gedächtnis geblieben.
Ich gebe aber gern zu, den Teil im Laufe der inzwischen vergangenen Jahre ausgeblendet zu haben. 😉
Ich müsste tatsächlich noch einmal reinlesen (so weit geht meine rückschauende Begeisterung nun auch nicht) – aber ich meine schon, dass gerade die “einfacheren” Siedlungen ja eher als gescheitert dargestellt wurden. Diese eine Stadt in den hohen Megas war doch durchaus entwickelt, ebenso die Gesellschaft direkt neben der Datum. Die Autoren haben schließlich sogar die Datum weitgehend unbewohnbar machen müssen.
Egal, wie groß der Schwerpunkt nun gewesen sein mag: Die Darstellung der Gesellschaft ist durchaus der Schwachpunkt im Weltenbau. Da bin ich durchaus bei Dir. Stark – und dabei bleibe ich – ist aber die Beschreibung der Welten. Mir hat das so gut gefallen, dass es mich über alle fünf Romane getragen hat.