Auf Hannu Rajaniemi bin ich über einen Kurzgeschichtenband gestoßen: It came from the North: An Anthology of Finnish Speculative Fiction, herausgegeben von Johanna Sinisalo (siehe auch hier). Darin stand die Geschichte Elegy or a Young Elk, zu deutsch Elegie für einen jungen Elch, auf Finnisch Elegia nuorelle hirvelle, man beachte den Schlagreim, mit hirvi – der Elch. Die Geschichte spielt kurz nach einer Nanorevolution, die die Menschen entkörperlicht und ins All getrieben hat. Man kann das Helsinki der Moderne noch erkennen, aber nur, wenn man sich ein bisschen in der Innenstadt auskennt. Es ist eine Dystopie, die Menschheit hat sich entweder vollkommen der Technik ergeben oder sie verweigert sie komplett und lebt in der Wildnis. Die Nanorevolution hat die Erde praktisch unbewohnbar gemacht, gleichzeitig ist man nur Mensch in unserem Verständnis des Wortes, wenn man sich nicht auf die Technik einlässt. Denn die verändert den Körper so stark, dass die winzigen, selbst-bewussten Nanomaschinen Teil der Identität werden.

Was Rajaniemi hier macht, ist eine technologische Singularität zu beschreiben, eine populäre These der Zukunftsforschung: Die (technische) Entwicklung schreitet so rasch voran, dass ab einem bestimmten Punkt – der Singularität – der Zustand nach diesem Punkt nicht mehr vorhersagbar ist. Alles ist so anders als jetzt, dass wir es nicht beschreiben oder verstehen können.
Und damit ist das Elend mit Quantum auch schon zusammengefasst. Ich war begeistert von der Elchelegie. Ich wollte mehr. Quantum spielt im selben Universum, nur später, auch wenn ich keine Ahnung habe, wieviel später. Der deutsche Klappentext klingt erstmal gut:
Seine Verbrechen sind im ganzen Sonnensystem bekannt – der Meisterdieb Jean le Flambeur kann sich jedoch an keine seiner Taten erinnern. Was ist mit seinem Gedächtnis geschehen? In wessen Körper steckt er? Und warum rettet ihn die ätherische Kriegerin Mieli aus seiner erbarmungslosen Gefangenschaft? Ausgerechnet in der Stadt des Vergessens soll Jean Antworten finden. Dort wird menschliche Lebenszeit als Währung gehandelt, und Erinnerungen sind der kostbarste Besitz jedes Einwohners. Und weil auf keinem Planeten Verbrechen härter bestraft werden, muss der Meisterdieb ohne Gedächtnis auf dem Mars den brillantesten Coup aller Zeiten durchziehen … Ein Abenteuer, das Zeit, Raum und Erinnerungen aus dem Gleichgewicht wirft und zu den wichtigsten Neuerscheinungen des phantastischen Genres zählt.
(Quelle Piper)
Rajaniemi ist Quantenphysiker, inzwischen CEO einer Biotech-Firma im Silicon Valley (und ja, er forscht an einem Covid-Impfstoff) und schreibt auf Englisch. Er schrieb Quantum, als er noch in Edinburgh in einem Labor an der Stringtheorie arbeitete. Es gibt zwei Folgebände, der zweite Fraktal wurde noch auf Deutsch übersetzt, der dritte The Causal Angel aufgrund mangelnder Nachfrage nicht mehr. Man merkt es schon am Klappentext: die „ätherische Kriegerin“? „Erbarmungslose“ Gefangenschaft? Und was hat die harte Strafe für Verbrechen (welche überhaupt, das Stehlen von Erinnerungen oder was anderes?) mit dem Coup zu tun? Was ist aus seinen Erinnerungen geworden?

Science-Fiction braucht Einordnung, Information, die es dem Leser ermöglicht, die Welt der Geschichte zu verstehen. Laut Samuel R. Delany setzt das Verstehen eines Science-Fiction-Textes bereits auf der Wortebene ein. Er belegt dies mit einem Beispielsatz, der mit “The sun rises …” (Die Sonne geht auf …) beginnt. Während bei Nicht-SF-Texten unter “sun” der Stern zu verstehen wäre, um den sich die Erde dreht, und der Leser damit unmittelbar einen Himmelskörper einer bestimmten Größe und Farbe vor Augen hätte, muss die genaue Beschaffenheit der fraglichen Sonne in einem SF-Text unsicher bleiben. Und “rises” bedeutet, wenn man sich gerade auf einem Raumschiff befindet, nicht zwangsläufig, dass sich die Sonne über die Horizontlinie eines Planeten erhebt. „Erbarmunglos“ wäre in einem Mafiathriller verständlich, aber was bedeutet es in dieser Welt? Wird er in nanometergroße Einzelteile zerlegt und wieder zusammengesetzt? Wird sein Bewusstsein verändert? Darf er nie wieder zur Erde zurück? Man weiß es nicht. Und man erfährt es auch im Laufe des Romans nicht wirklich. Das liegt nicht daran, dass es da nicht steht – der Plot ist relativ überschaubar und gradlinig. Es ist nicht richtig zu verstehen.

Das Wissen über unsere Welt ist beim Leser eines Science-Fiction-Romans mitunter komplett nutzlos, in Quantum nahe an fast vollständig nicht zu gebrauchen. Man muss sich auf eine fiktive Welt einlassen, man will sich auf eine fiktive Welt einlassen. Aber dafür braucht es Information, Erklärungen, Beschreibungen. Und es gibt sie auch – die Beschreibungen der Umgebung und der Maschinen, der Körper, der Ereignisse. Sie werden fast immer in (quanten)wissenschaftlicher Terminologie vorgetragen, die für den Laien praktisch unverständlich ist, auch wenn sie sicher die fremdartigen, postsingulären Zustände angemessen in Worte fasst. Die Verbindung zum Heute fehlt fast komplett, keine Ahnung, wie viel Zeit seit der Elchelegie vergangen sind, aber irgendwer badet in der Lava auf der Venus. Es gibt Raumschiffe, aber wie funktionieren sie? Wie die Schnellstraßen durchs Sonnensystem, das Bewusstsein der Maschinen? Wie sehen die Menschen denn nun aus? Ihre ganze Existenz hat etwas von Entkörperlichung, Loslösung vom Fleisch, aber das bleibt immer auf einer derart abstrakten Ebene, dass man keine Bilder im Kopf entwickelt und es sich folglich auch nicht vorstellen kann. Die Gesellschaftsordnung ist mittelstrange, wenn man Bewusstsein und den inneren Kern der eigenen Existenz manipulieren kann, ist das zu erwarten, aber das führt auch nicht zu einem besseren Verständnis.
Man kann Rajaniemi sprachlich kaum Versagen vorwerfen. Ich gehe davon aus, dass der Grad an Abstraktheit im Hirn eines Quantenphysikers den normalen Leser überfordert (und ich bin Naturwissenschaftler und hatte Vorlesungen in Quantenphysik, und ja, ich habe die verdammte Prüfung auch bestanden). Ich gehe davon aus, dass er versucht hat, die Unvorstellbarkeit der Singularität in Sprache zu übersetzen. Und das ist ihm gelungen – das Sonnensystem von Quantum ist tatsächlich extrem fremdartig und neu.
Aber es ist halt auch leider extrem mühsam zu lesen. Ich hätte mir an vielen Stellen gewünscht, dass der Roman mehr Informationen enthält, weil ich einfach gern mehr über die Welt erfahren hätte. Es klang alles so spannend, so innovativ, so neu. Viele gute SF-Autoren extrapolieren Heutiges, ohne dabei wirklich etwas Neues zu entwerfen. Manchmal wollen sie es nicht (SF ist nicht Futurologie), manchmal können sie es nicht. Und man denke an Connie Willis, die in den 80ern über das Jahr 2054 schrieb, in dem der Universitätsdirektor während seiner Ferien telefonisch nicht erreichbar ist (aber es gibt Zeitreisen).
Rajaniemi ist da anders. Er hat sich tatsächlich etwas Neues ausgedacht. Kevin Bankston, ein amerikanischer Rechtswissenschaftler und AI-Forscher (zur Zeit bei Facebook für Zukunftstechnologien zuständig), führt Quantum unter den Büchern, die ähnlich Neil Stephensons „metaverse“ und William Gibsons „cyberspace“, die Zukunftstechnologien des 21. Jahrhunderts erforschen. Es ist also was drin in dem Buch, man muss nur entweder ein hohes Level an abstraktem Denken oder sehr viel Geduld mitbringen.
Daten
Hannu Rajaniemi
Quantum
2011, Piper, ISBN 978-3492701938